Helfer und Fluchthelfer Hans Iby (1) beim österreichisch-ungarischen Grenzstein im Neckenmarkter Weingebirge: „Dort drüben – wo heute ein Gestrüpp ist – sind Dutzende DDR-Bürger durch ein aufgeschnittenes Loch im Stacheldraht in die Freiheit gekrochen.“ / Foto: Tesch
So haben sie Tausende DDR-Bürger auf deren illegaler Flucht in die Freiheit unterstützt.
Vor genau 30 Jahren ist es passiert: Tausende Bürger aus dem kommunistischen Ostdeutschland sind im Sommer über Ungarn und das Burgenland nach Westdeutschland geflüchtet – illegal. Erst am 11. September 1989 war die Ausreise erlaubt. Davor sind sie oft in dramatischen Aktionen geheim über die Grenze. Viele in finsterer Nacht durch den Stacheldrahtverhau. Mit einzigartiger Hilfe durch Hunderte Menschen im Burgenland. In drei Gemeinden des Bezirkes war der Andrang besonders groß – und auch die Hilfe. Im Gespräch mit Hans Tesch erinnern sich Helfende und Zeitzeugen von damals an die turbulenten Wochen.
Durch ein Loch im Stacheldraht in die Freiheit nach Neckenmarkt
„Heit tät i eingsperrt werdn dafür!“ Mit dieser Aussage deutet Hans Iby – bis vor drei Jahren 15 Jahre lang Bürgermeister von Neckenmarkt – an, wie heikel seine Mission zwischen Sopron und Neckenmarkt war. Dabei hat alles so überraschend mit dem ersten DDR-Flüchtling begonnen.
Es war der 12. August 1989, fünf Uhr früh. Sperrstunde beim Auftakt der Weintage. Hans Iby sperrt als Organisator mit seinem Kollegen Karl Schöll die Tore der Winzerhalle zu. „Plötzlich bricht vor uns ein Bursch zusammen und fragt: Wo bin ich?“, erinnert sich Iby noch genau: „Wir haben zuerst geglaubt, es ist einer, der zu viel von dem Blaufränkischen getrunken hat. Doch dann wurde es uns klar.“ Auf unsere Antwort: „In Österreich“, hörten wir ihn sagen: „Gott sei Dank!“ Es war Uwe, ein geflüchteter, entkräfteter DDR-Bürger. Die beiden Helfer machten ihm ein Frühstück.
Flucht in der Nacht
„Uwe erzählte uns von der Flucht in der Nacht, wie er mit seiner mitgebrachten Zange ein Loch in den Stacheldraht geschnitten hatte. Und er berichtete uns, dass auf Campingplätzen und Rastplätzen im Raum Sopron Tausende DDR-Bürger nur darauf warten, über die Grenze nach Österreich flüchten zu können. Und er teilte uns mit, dass seine Freunde in Ungarn auf eine Nachricht von ihm warteten.
„Ich nahm ihn mit zu mir nach Hause. Dort konnte er sich duschen. Ich habe ihm von mir Gewand gegeben.“ Ohne Uwe, der Angst hatte, von den Ungarn erwischt zu werden, fuhren die Helfer nach Sopron: „Die Stimmung auf dem Campingplatz war aufgeheizt und angespannt. Und nachdem wir uns Uwes ‚Trabi‘ näher angeschaut hatten, näherten sich einige Freunde Uwes und wollten von uns wissen, was wir hier wollten und wer wir eigentlich waren.
Wir erzählten von Uwe und seiner gelungenen Flucht. Doch von seinen Freunden schlug uns Misstrauen entgegen: Wir glauben euch nicht. Ihr seid von der Stasi! Sie meinten, wir seien vom DDR-Geheimdienst und wendeten sich von uns ab.
Freundschaftsband als Zeichen
Zurück in Neckenmarkt schrieb Uwe ein paar Zeilen an seine Freundin, die noch am Campingplatz war, und gab uns ein persönliches Erkennungsstück, ein Freundschaftsband, mit. Wir fuhren nochmals nach Sopron und suchten seine Freundin. Es gab wieder Diskussionen über die Glaubwürdigkeit unserer Erzählungen. Erst als Manfred B. – er war schon früher aus der DDR nach Westdeutschland geflüchtet – zu uns stieß, beruhigte sich die Situation. Er agierte als Fluchthelfer für einzelne Gruppen und hatte bereits Kopien mit Fluchtplänen verteilt – mit drei Fluchtrouten Richtung Neckenmarkt, das rund zehn Kilometer weit weg lag. Manfred B. glaubte ihnen: ‚Kümmert euch bitte in Neckenmarkt um die Flüchtenden.‘ Was auch geschah.“
Drei Wochen Ausnahmesituation in Neckenmarkt
Innerhalb weniger Tage sind mehr als 200 Flüchtlinge in Neckenmarkt angekommen. Zuerst einzelne Personen. Dann, vor allem in der Nacht, immer wieder ganze Gruppen von Menschen. „Die Angst war weg. In ihren Gesichtern war Erleichterung zu spüren. Sie haben beim Erzählen geweint“, ist Hans Iby – damals 32 Jahre alt – heute noch gerührt.
Mehr als 50 Männer und Frauen aus Neckenmarkt waren an der Hilfsaktion direkt beteiligt: Gemeindeangestellte haben im Fahnenschwinger- und Weinbaumuseum provisorische Schlaf-
stätten hergerichtet. Ein Ortsbewohner hat zur Orientierung für die Flüchtenden Rot-Weiß-Rot-Pickerl an den Bäumen angebracht. Die Jäger haben patrouilliert und Flüchtenden den Weg gezeigt. Feuerwehrkameraden haben erschöpfte DDR-Bürger mit dem Auto ins Dorf gefahren, das Feuerwehrhaus wurde als Aufnahmestation rund um die Uhr offengehalten. In mehr als zehn Familien wurden Flüchtlinge privat versorgt.
Die meisten sind nur eine Nacht in Neckenmarkt geblieben. Wenn insgesamt an die 40 Personen beisammen waren, sind sie mit einem Bus nach Wien zur Botschaft der Bundesrepublik Deutschland gebracht worden.
Deutschkreutzer findet den auf der Flucht verlorenen Sohn
„Danke, Danke, Danke.“ Das ist der Tenor bei einer Buchpräsentation (2) über die Fluchtwelle im Gasthaus „Zum Kirchenwirt“ in Deutschkreutz. Eigens dafür aus Deutschland angereist sind – 30 Jahre danach – einige Geflüchtete, ehemalige DDR-Bürger. Sie erinnern sich an die freundliche Aufnahme, die Hilfe, die spontan, uneigennützig und wie selbstverständlich erfolgt ist.
Das Gasthaus war die erste Anlaufstelle für die Flüchtlinge Ende August, Anfang September 1989. Dort wurden sie von der damaligen Kirchenwirtin Maria Glöckl und deren Tochter Anni mit allem Nötigen versorgt – mit Lebensmitteln, Kleidung und auch Toilettenartikeln.
Anni Heinrich – sie ist heute die Kirchenwirtin – erinnert sich noch genau an einzelne Schicksale von Flüchtlingen: „Da sind völlig verstörte Eltern ins Gasthaus gestürzt und erzählten verzweifelt, dass sie auf der Flucht ihren Sohn im Kukuruzacker verloren hatten. Und sie erwähnten, dass sie sich für den Fall einer Trennung einen Treffpunkt in Budapest ausgemacht hatten. Und dass sie dorthin fahren wollten.“ Ihre Mutter habe ihnen abgeraten. „Aber ein Stammgast aus Deutschkreutz, der vor vier Jahren verstorbene Peter Schöller, der alles mitgehört hatte, hat sich spontan bereit erklärt, den verlorenen Sohn zu suchen.“
Gesucht, gefunden. „Von Budapest hat Peter Schöller den Jungen zur Grenze unweit von Nikitsch gebracht, weil er dort das Risiko für geringer hielt. Dort hat er ihm den Weg durch den Stacheldraht gezeigt und ihm aufgetragen, in Nikitsch auf ihn zu warten.“ Peter Schöller ist offiziell am Grenzübergang Deutschkreutz eingereist und nach Nikitsch gefahren, wo er den Buben ins Auto gesetzt hat und zum Kirchenwirt in Deutschkreutz gebracht hat. „Das war ein Wiedersehen! Da sind Freudentränen geflossen!“, erinnert sich Anni Heinrich.
Fluchthelfer führt Familie zusammen
Harald Heinrich, später Ehemann der Kirchenwirtin, war selbst erfolgreich als Fluchthelfer aktiv. Im Gasthaus hat er Jan kennen gelernt, einen DDR-Bürger, der schon Jahre davor bei der Berliner Mauer nach Westdeutschland geflüchtet war. Ihm hat er geholfen, seine in der DDR verbliebenen Frau und seine kleine Tochter von Sopron nach Deutschkreutz zu bringen: „Ich habe Jan mit einer Beißzange ausgestattet, und ich habe ihm im Deutschkreutzer Weingebirge eine Stelle gezeigt, wo der Stacheldraht nicht so streng bewacht wird.“ Die Flucht ist mitten in der Nacht bei strömendem Regen gelungen – und die Familienzusammenführung auch! „Darauf bin ich sehr stolz, auch heute nach 30 Jahren noch. Wenn ich daran zurückdenke, bekomme ich heute noch eine Gänsehaut!“
Ganz Deutschkreutz im Flüchtlingsfieber
Das Dorf hat zusammengehalten! Neben dem Gasthaus Glöckl, Zum Kirchenwirt, war das Pfarrheim eine Sammelstelle. Dort hat mit dem Zunehmen des Flüchtlingsstromes das Rote Kreuz eine Aufnahmestelle eingerichtet. Viele freiwillige Helfer haben Rot-Kreuz-Mitarbeiter unterstützt. Und Sammlungen wurden durchgeführt, bei denen die Deutschkreutzer fleißig spendeten. Das Feuerwehrhaus war geöffnet. Private haben Unterkünfte bereitgestellt. Einzelne Deutschkreutzer haben mit ihren PKW Geflüchtete an der Grenze aufgelesen und in den Ort gebracht. Einige haben das von den Geflüchteten im Raum Sopron zurückgelassene Gepäck nach Deutschkreutz geholt. Die Deutschkreutzer sind überzeugt, mehreren Tausend Flüchtlingen geholfen zu haben, in ihre neue Heimat Westdeutschland zu gehen.
Zwischen den Deutschkreutzer Helfern – und Fluchthelfern – und den Flüchtlingen bestehen heute noch viele Kontakte.
Pfarrerin leitete Hilfsaktion in Lutzmannsburg
Ab Mitte August 1989 nahm der Flüchtlingsstrom über die Grenze täglich zu. Am 18. August sagten junge Frauen aus Lutzmannsburg zur damaligen evangelischen Pfarrerin Johanetta Reuss: „Wir müssen etwas machen!“ Das war der Anstoß für die Pfarrerin, eine Hilfsaktion zu organisieren, zwei Zimmer im Pfarrhaus zur Verfügung zu stellen und im evangelischen Pfarrhof einen Bereitschaftsdienst von Frauen und Männern einzurichten. – Das geht aus den Aufzeichnungen des Lutzmannsburger Ortshistorikers Mag. Oswald Gruber hervor.
70 Flüchtlinge wurden im evangelischen Pfarrhaus aufgenommen, das zur Drehscheibe der Hilfe geworden ist. Viele Lutzmannsburger Familien brachten Essen, Gemüse, Getränke, Kleidung und Schuhe in den Pfarrhof. „Viele stellten sich tage- oder gar wochenlang in den Dienst des Nächsten. Sie kochten Gemüsesuppen und verschiedene Mahlzeiten für die Flüchtlinge, die auf ihre Abreise zur Deutschen Botschaft in Wien warteten“, beschreibt Gruber die Situation. Und auch im katholischen Pfarrstadl wurden Kleidung und Schuhe für die Flüchtlinge gesammelt.
Der Einsatz der Lutzmannsburger begann schon an der Staatsgrenze. Dort wurden rot-weiß-rote Hinweisschilder aufgestellt mit der Aufschrift „Hier ist Österreich!“ Und Heribert Purt hat die Flüchtlinge aufgefangen und mit seinem Fahrzeug in den Pfarrhof gebracht.
Ein Flüchtling, Herr Bönnicke, machte den Helfern für die gelebte Mildtätigkeit ein besonderes Kompliment: „In Lutzmannsburg habe ich zum ersten Mal Menschen kennengelernt!“
Auch Gendarmerieposten von Stasi abgehört
Auch in den Wochen des zerfallenden kommunistischen Staates hat der Staatssicherheitsdienst offensichtlich noch auf Hochtouren gearbeitet. Jahre später ist aus den bekannt gewordenen Stasi-Akten eines Flüchtlings öffentlich geworden, dass die Stasi das Telefon der Familie Magedler überwacht hat und sogar das Telefon des Lutzmannsburger Gendarmeriepostens. Diesem Flüchtling habe die Familie Magedler bei sich zu Hause Unterschlupf geboten, erzählt Oswald Gruber.
Letztes Todesopfer am Eisernen Vorhang
Im „Lutschburger Weingebirge“ kamen im Jahr 1989 Hunderte DDR-Bürger in die ersehnte Freiheit – doch einer kam zu Tode. Auch für den Historiker Gruber war es eine schicksalhafte Begegnung an der Grenze.
Der 36-jährige Architekt Kurt Werner Schulz aus Weimar ist mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Sohn bei Répcevis/Heils am 21. August 1989 nach Österreich geflüchtet. Es war finstere Nacht. Frau und Sohn hatten bereits den Hotter von Lutzmannsburg erreicht, als Kurt Werner Schulz von einem ungarischen Grenzsoldaten gestellt wurde. Es kam zu einer „Rangelei“. In einer Pfirsichplantage auf österreichischem Staatsgebiet löste sich ein Schuss aus dem – noch aufgrund der Warnschüsse ungesicherten – Maschinengewehr des Ungarn. Das Projektil traf den Flüchtling in den Mund. Der DDR-Bürger sank um 22 Uhr 40 tödlich getroffen zu Boden. Die Frau rannte zu ihrem – inzwischen auf ungarisches Staatsgebiet gezerrten – Lebensgefährten zurück und leistete Erste Hilfe. Doch es gab keine Chance. Ein herbeigeholter ungarischer Arzt konnte nur noch den Tod feststellen.
Eine gemischte ungarisch-österreichische Grenzkommission kam zum Ergebnis, dass es sich um einen „Unfall“ handelte. An dieses letzte Todesopfer am Eisernen Vorhang erinnert eine von Oswald Gruber gestaltete Gedenktafel am Lutzmannsburger Aussichtshügel – enthüllt 30 Jahre danach.
Botschafter dankt allen Helfern ganz offiziell
Dank an die Helfer im Burgenland kommt in diesen Tagen von vielen Stellen, von Geflüchteten wie von der offiziellen Politik. In Erinnerung zu rufen sind die lobenden Worte (3) des 1989 in Wien residierenden Deutschen Botschafters Dietrich von Brühl, der auch Koordinator der Hilfsaktion seitens der BRD war: „Neben dem Gefühl, in Österreich in der Freiheit zu sein, waren die Flüchtlinge immer wieder von der Art und Weise beeindruckt, wie die Burgenländer halfen: ohne großes Aufheben, selbstverständlich und vor allem einfühlsam in die Nöte der Flüchtlinge. Diese fühlten sich bei ihnen sofort ‚daheim‘ und konnten schon jetzt Mut für die nächste Phase schöpfen: die Reise und den Neuanfang in Westdeutschland.“
Hinweise und Quellen:
(1) Hans Iby hat ein Fotobuch über seine Erlebnisse im Jahr 1989 gestaltet. Und er hat Fotos und Dokumente für die Ausstellung „Erste Begegnungen jenseits des Eisernen Vorhangs“ im Haus der Geschichte Österreich in Wien zur Verfügung gestellt. Hans Iby wird Anfang Oktober 2019 als Zeitzeuge bei einer Podiumsdiskussion in Wien über seine Erlebnisse berichten.
(2) Wolfgang Bachkönig: Sommer 1989 … durch den Eisernen Vorhang in die Freiheit; Verlag INNSALZ, Munderfing 2019.
(3) Dietrich Graf Brühl: Flucht in die Freiheit. Die Flüchtlingsbewegung aus Ungarn im Jahr 1989; In: Katalog zur Sonderausstellung 2001. Hrsg.: Heeresgeschichtliches Museum.